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Archiv-Artikel

„Ich war ein aggressives Arschloch“

Ist Jürgen Klopp nur der Fußballtrainer des Jahres in Deutschland – oder auch der geilste Chef der Welt?

+ „Selbstverständlich bin ich links. Eindeutig“+ „Ich würde nie eine Partei wählen, die verspricht, den Spitzensteuersatz zu senken“+ „Über allem steht die Familie“+ „Ich muss Menschen nicht auf die Flossen treten“

INTERVIEW JUTTA HEESS UND PETER UNFRIED

taz: Herr Klopp, bringen wir’s hinter uns; ein Linker sind Sie nicht, oder?

Jürgen Klopp: Ich halte mich nicht für sehr politisch, aber wenn Sie mir so kommen: Selbstverständlich bin ich links. Eindeutig. Linker als Mitte.

Was heißt das?

Ich glaube an den Sozialstaat und habe kein Problem damit, Krankenversicherung zu zahlen. Ich bin nicht privat versichert, ich würde nie eine Partei wählen, weil die verspricht, den Spitzensteuersatz zu senken. Mein politisches Verständnis ist: Wenn es mir gut geht, soll es den anderen auch gut gehen. Und wenn ich etwas in meinem Leben niemals tun werde, dann rechts wählen.

Wo fängt denn rechts an?

In der Politik ist es ja mittlerweile so, dass man die politischen Programme kaum mehr unterscheiden kann, also orientiere ich mich an der Person. Diese Personen dürfen ruhig der grünen Partei entspringen. PDS muss nicht sein.

Sie gaben unlängst einem Spieler frei, weil seine Mutter Geburtstag hatte. Ein Tabu in der Branche. Wollen Sie den Umsturz?

Wissen Sie, warum ich das getan habe? Über allem, was wir hier bei Mainz tun, steht die Familie.

Sie selbst durften einst als Profi nicht zur Einschulung Ihres Sohnes.

Ja, das ärgert mich heute noch. Damals war mir klar: Das wird nie wieder passieren! Ich frage mich noch heute: Warum habe ich nicht zum Trainer gesagt: Ich muss da hin?

Sie haben es gar nicht versucht?

Doch. Aber der Trainer hat gesagt: Willst du ihn mit der Videokamera aufnehmen oder was? Dahinter steht der Weicheivorwurf. Es hat lange gebraucht, bis ich das verstanden habe.

Fußballprofis wird nachgesagt, sie seien unfähig, mit niedrigen Hierarchien und Eigenverantwortung umzugehen. Heute Mutti, morgen Omi?

Ich glaube das nicht, dass die Leute so sind. Ich habe eine ganz andere Einstellung: Ich glaube, man kann dem Menschen vertrauen.

Sie glauben an das Gute im Menschen?

Dieser Glaube ist meine Richtlinie. Ich will, dass es den Menschen in meinem Umfeld gut geht. Darum geht es doch im Leben. Okay, wir spielen Fußball, und da gibt es harte Worte und mehr. Aber ich muss Menschen nicht auf die Flossen treten. Ich muss nicht die Ellenbogen einsetzen, um vorwärts zu kommen. Ich muss ihnen keine Strafen androhen, um Leistung einzufordern. Ich muss die Ziele den Spielern so aufzeigen, dass sie automatisch dahin wollen. Daran glaube ich.

Sind Sie religiös?

Ja, klar. Ich bin gläubig.

Man hat Sie als emotionalen Trainer kennengelernt, der wild am Spielfeld rumhüpft.

Als Spieler war ich auf dem Platz ein aggressives Arschloch. Es gab eine Zeit, da hatte ich wirklich Angst, dass ich den Tisch zertrümmern muss, wenn ich das nicht mehr auf dem Platz ausleben kann. Es ist dabei geblieben: Wenn ich spiele, bin ich absolut emotional.

Was erleben Sie da?

Man empfindet eine Körperlichkeit, die man jenseits des Fußballs nicht kennt. Wenn ich in dem Augenblick nicht der sein kann, der ich bin, dann dreh ich durch. Auf Videos sehe ich mich manchmal rumrennen und weiß gar nicht: was ist denn hier los?

Nach dem Spiel sind Sie plötzlich extrem sachlich.

Wenn das Spiel rum ist, ist es rum. Man hat im Fußball die Möglichkeit zu gewinnen. Und das fasziniert mich. Aber: Wenn man verliert, kann man nicht so tun, als wäre jetzt was passiert, mit dem man niemals gerechnet hätte. Als Analyse gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder wir konnten das nicht umsetzen, was ich vorgegeben habe. Oder ich habe die falschen Vorgaben gemacht.

Herr Klopp, Sie sind ein Trainer, der über Fußball redet. Das macht sonst fast kein Kollege.

Ich wundere mich auch darüber. Vielleicht liegt es daran, dass selten etwas zum Spiel gefragt wird. Sondern immer nur hypothetisches. So à la „Hätte man mit Ballack nicht besser gespielt?“

Ihr Kollege Ralf Rangnick wurde jahrelang gemobbt, weil er im ZDF-Sportstudio fachlich redete.

Ja, der Ralf hat damals völlig unbedarft die Tafeln hin und her geschoben. Das war ein Fehler. So konnte man ihn als kleinen Besserwisser abstempeln. Aber genau deshalb frage ich mich, ob man in Deutschland tatsächlich echte Informationen zum Spiel haben will – oder nicht? Will man hören „Sie hätten nicht mehr, sie hätten richtiger laufen sollen“? Ich bezweifle das.

Doch, doch, wir wollen das.

Dann machen Sie es auf Arte. Als kleine Exotensendung geht es vielleicht.

Was ist das Problem?

Früher spielte man Manndeckung. Da war die Frage angebracht: „Hätte der nicht diesen Zweikampf verloren, wäre dieses Tor nicht gefallen?“ Heute spielt man Raumdeckung. Aber viele Fragen basieren auf dem Verständnis von damals. Man sollte nicht mehr über die Spieler reden, sondern über das Spiel.

Sie haben gesagt, sie spielen für den Stammtisch. Da sitzen in der Regel reaktionäre Kräfte, die gegen Millionarios und Haargel wettern – und gegen alles, was neu und was fremd ist.

Ich habe mir weniger Gedanken gemacht über dieses Wort, als Sie vielleicht glauben. Aber es ist so: „Laufen, rennen, kämpfen“, das sind Stammtischparolen, und das will ich. Wir wollen wirklich laufen ohne Ende. Es wäre schlimm, wenn auch nur einer aus dem Stadion rausgeht und sagt: „Die hätten mehr rennen und kämpfen müssen.“ Dann hätten wir alles falsch gemacht.

Das ist mit Rennen und Kämpfen zu befriedigen?

Nein, da steckt natürlich mehr drin als nur Rennen und Kämpfen. Ich liebe dieses Spiel so sehr, weil es um Kraft geht, weil es staubt. Die Emotionalität eines Spiels ist nur über Tempo und Aktion zu erreichen. Es geht nicht darum so zu spielen, dass es reicht, um zu gewinnen. 2: 0 und dann verwalten? Niemals. Ein Sieg allein ist nicht emotional. Tore über Elfmeter sind null emotional. Am nächsten Morgen hast du keine Erinnerung mehr an das Spiel. Du wachst am Sonntag auf. Und hast kein Empfinden mehr zu dem Spiel. Schrecklich.

Wie muss es sein?

Nach guten Spielen stehen einem Montag oder Dienstag noch die Haare zu Berge. Fußball ist Theater. Wenn wir kein überragendes Stück spielen, sitzen am Ende nur noch zwei Leute rum.

In den Boulevardmedien bedient man auch den Stammtisch. Bild hat ermittelt, dass der Mainzer Arbeitnehmer für einen Bruchteil des Gehalts härter arbeitet als seine Millionario genannten Kollegen bei anderen Klubs. Das kann man schön auf andere Arbeitnehmerbereiche übertragen.

Ja, das kann passieren. Alles, was ich sage, wird so oder so verwertet. Ich hatte mir da zu wenig Gedanken gemacht. Aber die entscheidenden Punkte bei Fußballgehältern sind: Es geht darum, sich ein Leben über den Fußball zu finanzieren. Und entscheidend für das Gehalt ist nicht die Leistung, die man bringt, sondern die Leistung, die man erbracht hat. Wer jetzt in Mainz Leistung bringt, hat irgendwann die Möglichkeit, auch das zu kriegen, was die anderen kriegen.

Bei einem anderen Arbeitgeber.

Ach, das war doch schon immer so. Das ist normal. Ginge es nicht um Geld, hätten wir andere Leute hier. Keiner wird sagen, ich hab zwar keine Kohle, aber zehn geile Jahre in Mainz gehabt.

Die außergewöhnlich große Anteilnahme an Mainz 05 speist sich auch aus der Sehnsucht, die Gesetze des Kapitalismus zumindest auf dem Spielfeld Fußball zu durchbrechen.

Ich glaube, dass hier kein Spieler das Gefühl hat, zu wenig zu verdienen. Das, was jetzt ist, ist klasse und befriedigend. Das so zu empfinden, das entscheide nur ich, niemals die Umstände.

Das reden Sie den Profis ein?

Nein, das kann man leben. Man kann dafür sorgen, dass die Jungs gerne da sind, dass das Training gut ist, dass man sich um sie kümmert. Dass es einfach Spaß macht. Man muss begründen können, warum es wichtig ist, im Graupelschauer bei minus 15 Grad zu trainieren.

Ihr Freiburger Kollege Volker Finke erzählt seit Jahren, dass die Tabelle ein fast genaues Abbild des eingesetzten Kapitals ist. Kann man mit einem Etat von 20 Millionen über längere Zeit im oberen Tabellendrittel spielen?

Weiß ich nicht, aber es wäre einen Versuch wert. Man muss sich greifbare Ziele setzen. Ich habe auch bewusst nicht gesagt: Das Ziel ist der Klassenerhalt. Das ist ja sowieso logisch. Es geht darum, in jedes Spiel unsere volle Energie reinzupacken. Und so gehen wir es an.

Sie haben auch die öffentliche Wahrnehmung von Mainz verändert. Und die Stadt selbst?

Fußball in Mainz ist ein Sport für alle Generationen geworden. Neulich haben mich beim Geldabheben zwei 70-jährige Frauen fast überfallen. Die erkannten mich. Wirklich unglaublich. Die Leute kommen ins Stadion und wissen schon: Die Jungs werden alles geben. Ich glaube, die Leute wollen solche Events. Man möchte im Leben etwas gewinnen können. Und das kann man im Stadion. Das ist nicht nur in Mainz so. Überall sind die Leute begeisterungsfähig. Aber für dieses eine Jahr sind wir der geilste Verein der ganzen Welt.

Geil scheint Ihr Lieblingswort zu sein. Warum?

Ich bin leicht zu begeistern, vor allem von meinen Jungs. Und geil ist das Wort, was meine Begeisterung am besten ausdrückt. Meine Sprache ist wichtig, und deshalb habe ich auch so viele deutschsprachige Spieler: Ich muss sie erreichen können. Aber ich benutze „geil“ nicht, weil ich jugendlich oder cool erscheinen möchte. Mir fehlt einfach ein besseres Wort, um auszudrücken, dass ich grade etwas exorbitant schön finde.